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Warum die neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand und Drittem Sektor eine Revolution sind

Alceste Santuari, ordentlicher Professor für Wirtschaftsrecht an der Universität Bologna, kommt am 24. November nach Bozen. Im Rahmen einer Tagung im Pavillon des Raiffeisenverbandes spricht er über neue Verfahren der Mitgestaltung von öffentlicher Verwaltung und den Körperschaften des Dritten Sektors („co-programmazione – co-progettazione – accreditamento“). Für ihn eine kleine Revolution im Rechtssystem – wie er im Interview erklärt.

Raiffeisen Nachrichten: Können Sie uns erklären, was die Reform des Dritten Sektors mit sich bringt – also die Reform, die 28 verschiedene Sektoren betrifft, vor allem aber die sozialen Genossenschaften?

Alceste Santuari: Die Reform des Dritten Sektors liefert die rechtliche Grundlage für neue Formen der Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Verwaltung und gemeinnützigen Organisationen aus dem Dritten Sektor. Die Instrumente “co-programmazione – co-progettazione – accreditamento” sind nicht neu. Neu ist jedoch das partnerschaftliche Verhältnis zwischen den Vertretern der öffentlichen Verwaltung und der Organisationen des Dritten Sektors. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe ist ein Novum. Für unser Rechtssystem ist das eine kleine Revolution.

Können Sie uns dafür ein Beispiel geben?

Alceste Santuari: Bisher haben öffentliche Einrichtungen ihre Dienste im sozialen Bereich über Wettbewerbe ausgeschrieben. Dabei dachten sie ausschließlich in der Logik von Kosten und Vergabevorschriften. Mit der neuen Gesetzgebung rücken Leistungslogik und der finanzielle Aspekt in den Hintergrund. Auch weil diese Herangehensweise bei komplexen Projekten an ihre Grenzen stößt. Wie will man beispielsweise die Betreuung für unbegleitete Minderjährige ausschreiben? Über die Anzahl der Jugendlichen, oder die Anzahl von Betreuungsplätzen? In diesem Bereich ist es der Gemeinde Forli gelungen, mit Hilfe einer Co-Planung, die Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen völlig neu zu organisieren. Sie kann heute auf ein gut funktionierendes Netzwerk von über 30 qualifizierten Einrichtungen zurückgreifen.

Das heißt, künftig werden Dienstleistungen nicht mehr von der öffentlichen Hand bestellt, sondern gemeinsam geplant?

Alceste Santuari: Richtig, von der Entscheidung über die Bedarfsermittlung bis hin zur Durchführung der Maßnahmen stehen die Einrichtungen des Dritten Sektors und die öffentlichen Stellen im Dialog miteinander. Sie legen gemeinsam fest, wie sie vorgehen wollen. Bei der Tagung werde ich auch darüber sprechen, welche neuen Möglichkeiten es für Behörden künftig gibt, diese Prozesse zu organisieren und selbst zu regeln.

Das ist ein Paradigmenwechsel?

Ja genau, darauf weise ich seit langem hin. Es ist in primis ein kultureller Wandel, eine kulturelle Herausforderung. Ich erinnere mich an eine leitende Angestellte, die zu mir kam und mir ihre Vorstellungen für einen neuen Dienst vorlegte. Sie hatte bereits einen Sitz im Kopf und wollte dann co-progettazione machen. Genau das ist es nicht, denn im Grunde hatte sie alles schon geplant. Es geht darum alle möglichen Beteiligten an einen Tisch zu holen und zu erheben, zu vergleichen und zu bewerten, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Wie etwas umgesetzt wird, entscheidet sich erst im Laufe des Prozesses. Das ist die Neuheit, die ein Umdenken verlangt.

Wird es weiterhin Wettbewerbe geben?

Ausschreibungen könnten heute schon viel flexibler gestaltet werden, da man beispielsweise soziale Klauseln oder Umweltkriterien einfügen kann. Die neuen Formen der Zusammenarbeit kommen nun als zusätzliche Möglichkeiten hinzu. Klassische Wettbewerbe wird es weiterhin geben, vor allem wenn es um die Anschaffung von gut quantifizierbaren Gütern geht, wie Computer oder Material für Schulen.

Was gibt Ihnen Hoffnung, dass sich der neue Ansatz durchsetzen wird?

Ich bin sicher, dass sich diese Herangehensweisen durchsetzen wird, weil Bedarf und Bedürfnisse immer komplexer werden. Denken Sie nur an bestimmte Bereiche der Gesundheit wie mentale Störungen. Der gesundheitliche Aspekt ist bei der Begleitung von Betroffenen nur ein kleiner Teil. Für ihre Betreuung braucht es ein soziales Netzwerk der Unterstützung, also Freiwillige, die ihnen das Essen nach Hause bringen, oder sie bei Ausflügen begleiten. Wie können all diese Anforderungen in eine Ausschreibung eingebunden werden? Das ist unmöglich. Da bieten sich co-programmazione und co-progettazione als Lösung an.

Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Umsetzung?

Es gilt vor allem zwei Dinge zu beachten: Zunächst muss man wissen, warum jemand diese Instrumente einsetzen möchte. Also nur sagen: ‘Wir machen jetzt co-progettazione’ genügt nicht. Falls beispielsweise die Bestellung des Mensadienstes bisher gut funktioniert hat, braucht man an der Art der Ausschreibung nichts ändern. Wenn man Elemente der co-programmazione einführen möchte, sollte man zuerst ein Ziel definieren und begründen, warum man das über co-progettazione machen möchte und ob es am Territorium ein Netzwerk zu diesem Thema braucht. Wenn ja, dann braucht es Austausch und keine klassische Ausschreibung.

Die zweite Gefahr für Non-Profit-Organisationen sehe ich, wenn Körperschaften am Prozess teilnehmen, die noch immer glauben, dass es ums Gewinnen geht. Das ist falsch, denn der neue Kodex des Dritten Sektors sieht vor, dass sich am Ende mehrere Projekte am Kuchen beteiligen können. Daher wird es höher bewertet, wenn sich mehrere Organisationen zusammenschließen und gemeinsam einen Dienst anbieten. Die Logik, je mehr ich einkaufe, desto billiger wird es, funktioniert nicht mehr.  Auch deshalb, weil der Nationale Plan PNRR (Piano Nazionale Ripresa e Resilienza) vorsieht, dass die Folgen von politischen Entscheidungen in die Bewertung einfließen, wie beispielsweise die sozialen Auswirkungen. Am Ende der Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Verwaltung und privaten Organisationen muss ich darlegen, welche sozialen Auswirkungen die Entscheidung hat: das Projekt X hat zu mehr weiblicher Beschäftigung geführt oder hat den sozialen Zusammenhalt in einem Viertel verbessert.

Herausforderungen gibt es also viele. Das wichtigste allerdings ist, dass es jetzt endlich die rechtlichen und gesetzlichen Voraussetzungen gibt, um im öffentlichen Sektor mit co-programmazione, co-progettazione und accreditamento zu arbeiten.

Anmeldung zur Fachtagung

Die Fachtagung "Co-programmazione - co-progettazione - akkreditierung: Neue Grundlagen für eine Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Verwaltung und Einrichtungen des Dritten Sektors" findet am 24. November 2021, von 10:00 bis 13:00 Uhr im Pavillon des Raiffeisenverbandes Südtirol - Bozen statt.

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